Selbständige in der Corona-Krise: Vorzugsbehandlung durch Bundesregierung?

Durch die COVID-19-Pandemie sind zahlreiche Erwerbstätige in ihrer Berufstätigkeit eingeschränkt, teilweise mit negativen Folgen für ihr Einkommen. Eine Teilgruppe der davon Betroffenen sind Selbständige. Der Umgang der Bundesregierung bei ihrer Unterstützung ist deutlich anders als der bei abhängig Beschäftigten.

Zunächst zur Größenordnung: in 2018 gab es rund 2,2 Mio. Solo-Selbständige und rund 1,8 Mio. Selbständige mit Beschäftigten, zusammen etwa 4 Mio. Personen. Der Median des monatlichen Nettoeinkommens aller Selbständigen lag 2018 bei 1.660 Euro, der für das monatlichen Bruttoeinkommen bei 2.500 Euro (Quelle: BMAS: Selbstständige Erwerbstätigkeit in Deutschland (Aktualisierung 2020). April 2020, erstellt durch IZA – Institute für Labor Economics im Februar 2020). Hierbei gibt es eine große Spannweite, die durch verschiedene Faktoren (Zahl der Arbeitsstunden, Art der Tätigkeit, Geschlecht usw.).

Die Bundesregierung hat in der Gesetzesbegründung zum Sozialschutzpaket zur Abfederung sozialer und wirtschaftlichen Folgen aufgrund der Corona-Pandemie 1 Mio. Selbständige prognostiziert, die auf staatliche Transferleistungen (Arbeitslosengeld II, Kosten der Unterkunft) aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende (sog. „Hartz IV“; Rechtskreis SGB II) angewiesen sein werden. Das entspricht etwa 25% aller Selbständigen. Die Prognose wurde unter Berücksichtigung ihrer Branchen- und Einkommensstruktur vorgenommen. Die Selbständigen im untersten Quintil (Quelle: BMAS: Selbstständige Erwerbstätigkeit in Deutschland (Aktualisierung 2020). April 2020) verdienen nach ihren Angaben im Median monatlich Brutto 400 Euro. Das liegt deutlich unter der Regelleistung Arbeitslosengeld II (432 Euro für eine/n Alleinstehende/n).

Vor allem für die Selbständigen, und darunter die Solo-Selbständigen, ist der vereinfachte Zugang zu Leistungen des SGB II beschlossen worden. Vereinfachter Zugang beinhaltet unter anderem eine geringere Prüftiefe der Jobcenter auf die Leistungsberechtigung und eine zeitweise Aussetzung der Berücksichtigung relevanten Vermögens.

Sie werden von der Bundesregierung auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende verwiesen, obgleich sie in ihrem Selbstverständnis weder „arbeitslos“ noch „arbeitssuchend“ sind, denn in der Regel fehlt ihnen durch die Pandemie-bedingten Einschränkungen einen relevanter Umsatz.

Die Zahl der Selbständigen, die trotz dieser Verbesserungen, die Grundsicherung für Arbeitssuchende beantragt haben bzw. auch beziehen, ist im Vergleich zur Prognose extrem gering. In jedem Monat in 2020 betrug die Zahl der selbständigen Erwerbstätigen im SGB II weniger als 40.000 Leistungsbezieher.

Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; mit Medledauer von max. 1 Monat

Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit weist die erwerbstätigen Selbständigen mit einer maximalen Dauer von einem Monat aus. Damit können die Corona-bedingten Zugänge leichter abgrenzt werden von der üblichen Entwicklung. Insofern können die Monatszahlen wie Zugangszahlen interpretiert werden. Allerdings gibt es auch Abgänge aus dem Leistungsbezug.

Die Spitze der „Zugänge“ mit 33.349 Selbständigen lag im April 2020 und geht danach kontinuierlich zurück. Im Oktober 2020 waren es noch 2.770 Leistungsbeziehende mit einer Meldedauer unter einem Monat. Summiert man die Werte von März bis Oktober 2020 auf, dann sind in diesem Zeitraum rund 85.500 Selbständige in das SGB II zugegangen. Das waren bisher etwa 8,5 Prozent der geschätzten Zahl von 1 Mio. Personen.

Wie kann es zu einer so großen Abweichung von der Prognose kommen? Wer hat die Prognose von 1 Mio. Selbständige im SGB II erstellt?

Warum nutzen Selbständige den besonders für sie konzipierten vereinfachten Zugang zum Arbeitslosengeld II nicht in größerem Umfang?

Eine Erklärung könnte darin bestehen, dass trotz Verbesserungen im Zugang zu „Hartz IV“ die Hürden immer noch zu hoch sind. Sicherlich ist der weiterhin bestehende Nachweis der Bedürftigkeit von sich und seinen Angehörigen (also der gesamten Bedarfsgemeinschaft) für Selbständige nicht „attraktiv“.

Eine andere Erklärung wäre, dass die vorhandenen Einkommens-Daten nicht sorgfältig ausgewertet wurden. So ist davon auszugehen, dass das unterste Einkommens-Quintil mit den erwähnten 400 Euro im Monat, entweder schon im Leistungsbezug von „Hartz IV“ ist oder es weitere Einkommen aus anderen Einkommensarten oder von Haushaltsangehörigen gibt, die nicht berücksichtigt sind. Eine weitere Erklärung ist die Datenqualität: die Angaben zum Einkommen der Selbständigen sind Selbstauskünfte.

Forschungsinstitute gehen auch davon aus, dass Selbständige in der Corona-Krise ihr Selbständigkeit aufgeben und eine abhängige Beschäftigung suchen oder ausüben (wollen; vgl. hier).

Und schließlich wäre noch zu berücksichtigen, dass die Statistik der Bundesagentur für Arbeit die erwerbstätigen Selbständigen ausweist; darüber hinaus wird es Selbständige geben, die ihre Arbeitszeit nicht reduziert haben, sondern nicht arbeiten (und somit nicht erwerbstätig sind). Das ist eine Frage der Abgrenzung. Dass diese Gruppe eine Größenordnung von 900.000 Personen ausmachen, ist eher unwahrscheinlich, da sich dann andere Indikatoren auch sehr verändert haben müssen (z. B. Zahl der Arbeitslosen). Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit geht für den Zeitraum April bis Oktober von etwas 59.000 Arbeitslosen aus, die vorher Selbständige waren.

Im Umgang mit den Selbständigen ist auffällig, dass die Bundesregierung sie im Vergleich zu anderen Leistungsberechtigten im SGB II „anders“ behandelt. Während wegen den Selbständigen ein verbesserter Zugang zu Jobcenter-Leistungen geschaffen wurde, haben Eltern, deren Kinder wegen des lockdowns nicht mehr das Schulmittagessen einnehmen konnten, zusätzliche Ausgaben, die längere Zeit nicht kompensiert wurden (und auch nur durch die Essenslieferung nach Hause). Für sie gab es keinen vereinfachten Zugang.

Und nun wird für die Selbständigen seitens der Bundestagsparteien ein „Unternehmerlohn“ von monatlich 1.000 bis 1.200 Euro vorgeschlagen, während für für Nicht-Selbständige weiterhin ein wie immer ausgestaltetes „Grundeinkommen“ ausgeschlossen wird.

Es entsteht der Eindruck, das eine selbständige Erwerbstätigkeit für die Bundesregierung etwas Besseres ist als die abhängige Beschäftigung.

Um Armut zu bekämpfen und den Sorgen der Bevölkerung für ihre Zukunft zu begegnen, bedarf es eine Neujustierung des bestehenden System der sozialen Sicherung.

Nachtrag:

14.11.2020: Jetzt berichten auch Tagesschau u. a.

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